Um 5 Uhr morgens ging es los von Riobamba gen Regenwald. In Puyo trafen Theresa und ich uns mit dem 21-jährigen Moi, seinen Schwestern und Cousinen. Moi ist ein junger Psychologiestudent, der über workaway Freiwillige dazu einlädt, Zeit mit seiner Familie und deren Gemeinde im Regenwald zu verbringen und etwas auszuhelfen.
Seine Mutter ist aus dem Stamm der Waorani, einem der ursprünglichen indigenen Stämme des ecuadorianischen Dschungels. Der Vater dagegen ist ein Kichwa, hierbei handelt es sich um eine deutlich weiter verbreitete Ethnie in vielen Ländern Südamerikas. Obwohl die “comunidad”, die wir besuchten, offiziell als Wao bezeichnet wurde, gab es nur zwei Familien mit einer solchen Abstammung. In den restlichen Familien wurde Kichwa gesprochen. Mois hochschwangere Schwester war extra aus der Stadt angereist, um nach einer alten Tradition der Waorani ihr Baby und die Schwangerschaft segnen zu lassen.

Von Puyo aus ging es mit dem Bus weiter in Richtung Osten nach Arajuno, wo wir erstmal zu Mittag aßen. Danach wurden wir hinten auf einen Truck geladen, für eine Stunde, bis zum Ende der befahrbaren Straße. Nun wurde unser Gepäck in ein Kanu geladen, die Gummistiefel angezogen und ein Marsch von einer weiteren Stunde durch Flüsse und hohe Urwaldbäume begonnen. Als wir das Zuhause von Mois Eltern erreichten, erwarteten uns diese gemeinsam mit drei weiteren Freiwilligen.

Die Familie besitzt ein einfaches Holzhaus mit drei Schlafzimmern und offenen Fenstern. Die Küche befindet sich im Freien und besteht aus einer Feuerstelle zum Kochen und einem Regal für die Lebensmittel, die nicht selbst angebaut, sondern in Arajuno gekauft werden. Außerdem befinden sich dort einige Zelte für die Gäste und eine weitere Feuerstelle mit Hängematten. Es gab sogar ein Klohäuschen. Einen Luxus, den sich die anderen Familien des Dorfes nicht leisten können.
Zum Duschen allerdings musste man 20 Meter zu einer geeigneten Flussstelle laufen, wo man in dem klaren, ca. einen Meter tiefen, Wasser baden und währenddessen die Aussicht und das Vogelgezwitscher genießen konnte. Ich würde behaupten, dass man selbst im teuersten Luxushotel kein so einzigartiges Badeerlebnis bekommen kann.

Etwa alle drei Tage wurde für ungefähr zwei Stunden ein Generator angemacht, sodass Handys und Kameras aufgeladen werden konnten und wir auch nach Sonnenuntergang noch Licht zum Kartenspielen hatten.

Gleich am ersten Nachmittag liefen wir zu einer idealen Bade- und Schwimmstelle des großen Flusses. Hier konnte man an einigen Stellen bedenkenlos ins Wasser springen und an anderen im seichteren Wasser Volleyball spielen. Wir verbrachten während unseres zehntägigen Aufenthaltes viele Nachmittage an diesem paradiesischen Ort. Und nach einiger Zeit dachte ich auch nicht mehr alle 10 Sekunden über Wasserschlangen und andere Urwaldtiere nach. Wir sollen uns keine Sorgen machen, hieß es, die Schlagen kämen erst abends aus ihren Verstecken. Gleichzeitig wurde uns allerdings die Geschichte davon erzählt, wie sie einen Bruder verloren hatten, da dieser als Kleinkind von einer Schlange gebissen wurde und dort am Abend keine Chance mehr besteht, ein Krankenhaus zu erreichen.

Soweit das Auge reichte, gehört das Gebiet Mois Mutter. Denn dieser wurde es von seiner Großmutter Dayuma vermacht. Angeblich handelt es sich um das einzige Gebiet im ecuadorianischen Regenwald, das von der Regierung noch an keine Ölfirma verkauft wurde. Die Frage ist nur, wie lange das noch so bleibt.

Am Montag wanderten wir bei prallem Sonnenschein und unglaublich schwüler Hitze zu einem großen Wasserfall. Ich hatte auf der Reise zwar schon einige vergleichbare Wasserfälle zu Gesicht bekommen, jedoch fühlte es sich ganz anders an, da es sich dabei um keine Touristenattraktion handelte, bei der man Eintritt zahlen musste, sondern man das Naturschauspiel sich selbst überlassen hatte und ganz alleine, eben mitten in der Natur betrachten konnte.

Aber auch das wird vermutlich nicht immer so bleiben. Denn der junge Moi hat große Pläne. Er will auf dem Besitz seiner Mutter eine Eco Lodge für Touristen errichten. Die erste in seinem Land, die von einem Indigenen betrieben wird. Aber bis dahin liegt noch ein weiter Weg vor ihm.

Am Nachmittag desselben Tages fand das bereits erwähnte Schwangerschaftsritual der Wau statt. Dafür bemalten sich alle mit dem roten Pulver aus einer dortigen Frucht die Gesichter und die Familienangehörigen zogen sich die traditionelle Kleidung an. Es wurden zwar die alten Texte gesprochen und Rituale durchgeführt, aber da man merkte, dass die jungen Leute es selbst auch etwas mit Humor nahmen, war es keineswegs unangenehm, daran teilzuhaben. Die schwangere junge Frau kicherte die ganze Zeit, aber die älteren waren mit ernsterer Miene dabei und murrten, dass das Ritual nur helfen könnte, wenn sich ihre Tochter zusammenreißen würde.

Danach saßen wir bis spät in der Nacht am Lagerfeuer zusammen. Der Sternenhimmel in dieser zweiten Nacht war unfassbar schön und vergleichbar mit dem, den ich in den Wüsten gesehen hatte.

Ab dem nächsten Tag fingen wir dann mit der Arbeit an, schließlich wollten wir uns auch ein wenig nützlich machen. Unsere Aufgabe bestand darin, in der lokalen Schule auszuhelfen. Diese war nur eine Flussüberquerung von unserer Unterkunft entfernt und bestand aus zwei großen Hütten. In der einen wurden alle Kinder der “comunidad” von der ersten bis zur siebten Klasse unterrichtet und in der anderen waren Materialien untergebracht. Zudem gab es noch das Haus, welches die Lehrerin mit ihrem Neffen bewohnte.
Bei der Schule handelte es sich um eine bilinguale Einrichtung, denn die Schüler wurden sowohl in Spanisch als auch in Kichwa unterrichtet. Waorani stand nicht auf dem Stundenplan. Insgesamt schien die Lehrerin, die erst vor wenigen Monaten kurzfristig innerhalb von wenigen Tagen an diesen neuen Einsatzort versetzt worden war, etwas überfordert mit der Situation. So wurden die wöchentlich wechselnden Freiwilligen eingesetzt, um die ältesten Schüler, die Siebtklässler, zu unterrichten.

Die Serbin Mariana übernahm die Fächer Englisch und Geographie, Theresa und ich versuchten uns an Mathe und Biologie. Wir orientierten uns an den Schulbüchern der Kinder. Auch wenn es mir unglaublich Spaß machte, unseren sieben Schülern und Schülerinnen etwas beizubringen, betrachtete ich die ganze Sache mit Sorgen. Auf diese Art wird den Kindern nicht die Bildung zur Verfügung gestellt, auf die sie eigentlich einen Anspruch haben. Ihre “Lehrer” wechseln jede Woche und haben größtenteils keine angebrachten spanischen Fähigkeiten.

Doch leider scheint die Bildung beim Heranwachsen dieser Kinder nicht im Vordergrund zu stehen. Kaum jemand bekommt die Chance, die Schullaufbahn nach der siebten Klasse fortzuführen. Denn dafür müssten sie in die nächste Stadt ziehen und das können sich die Familien nicht leisten. Dafür verbringen sie allerdings den ganzen Tag im Freien, klettern auf Bäume und besiegen Schlangen. Vor dem Fernseher oder dem Handy verblödet dort immerhin keiner. So übten wir in Mathe wichtige Grundlagen, wie das Dividieren und das Kopfrechnen und quälten uns durch das ziemlich schlechte Schulbuch für Naturwissenschaften.
Nichtsdestotrotz habe ich die Kinder sehr liebgewonnen. Auch wenn es bei der schwülen Hitze des Regenwaldes an manchen Tagen schier unerträglich war, sich auf die Mathematik zu konzentrieren. Aber als ich mittags auf einem Baumstamm balancierend den Fluss überquerte und mich auf die alltäglichen Kochbananen freute, war ich meistens sehr zufrieden.

Bananen gab es im Überfluss. Kochbananen zum Frühstück, zum Mittagessen und zum Abendessen. Reis gab es natürlich auch. Ziemlich oft. Und Avocados! Manchmal kochten wir aber auch Nudeln mit Tomatensoße. Und an zwei Abenden machten wir Stockbrot, eine deutsche Spezialität, welche ziemlich gut ankam. Mit der Zeit wurden wir immer besser im Feuerschüren und so mussten wir nicht mehr so lange auf unser Essen warten:)

Die Familie besaß auch mehrere Hunde, alle Geschenke der Kinder für den Vater. Diese wurden allerdings ziemlich schlecht behandelt, das heißt, sie bekamen kaum etwas zu fressen, dafür war den Menschen das Essen anscheinend zu schade. Deshalb sahen die sieben Vierbeiner auch ziemlich mager aus, sodass wir uns wunderten, wie sie die Energie aufbringen konnten, um durch den Dschungel zu preschen. Darüber hinaus gab es auch einen Papagei, denn üblicherweise besitzt eine Familie der Wao mindestens einen solchen Vogel. Dieser spezielle konnte unverwechselbar ähnlich die Geräusche eines schreienden Babys nachahmen, da er mit Kleinkindern aufgewachsen war. So war ich das erste Mal ziemlich erschrocken, als ich unter der Holzhütte Babygeräusche ausmachte. Auch neigte er dazu, mein Lachen zu imitieren:)

An zwei Abenden, an denen wir von den Vorzügen des Stromgenerators profitierten, wurde ein sehr alter Fernseher hervorgeholt. Denn es gibt sowohl einen Spielfilm als auch eine Dokumentation über die Geschichte des Stammes der Waorani, in denen Mois Großmutter Dayuma eine entscheidende Rolle spielte.
Wenn ich in diesem Fall von deren Geschichte spreche, meine ich deren gemeinsame Geschichte mit einigen evangelischen Missionaren. Obwohl also die Darstellung aus Sicht der heilbringenden US-amerikanischen Missionare in diesen Filmen etwas fragwürdig ist, war es trotzdem interessant, an den Original-Schauplätzen etwas über die Vergangenheit von Mois Familie zu erfahren.
Am Ende unseres Aufenthaltes lernten wir zwei ehemalige Freiwillige kennen, die einige Monate zuvor entschieden hatten, eine “bessere” Dokumentation aus der Sicht der Waorani zu drehen. Diese soll Ende des Jahres auf YouTube erscheinen, teilten sie uns mit. Dafür hatten sie sich sogar tiefer in den Urwald gewagt. Die dort anzutreffenden Stämme leben völlig isoliert von der Außenwelt, und haben den Ruf, unerwünschte Touristen, die auf dem Fluss in ihr Gebiet eindringen, mit Pfeil und Bogen abzuschießen. Moi erzählte uns, dass nicht einmal er sich in deren Revier vorwagt.

Unsere Kollegin, die Lehrerin schlug uns vor, sie bei ihren Besuchen der Familien unserer Schüler zu begleiten. So bekamen wir einige weitere Holzhäuser zu Gesicht, in denen Groß und Klein zusammen saß und Chicha trank. Dies ist ein bierähnliches Getränk aus der Yukawurzel, das aus halben Kokosnussschalen getrunken wird. Die Häuser liegen alle ungefähr zehn Minuten Fußweg voneinander entfernt und die meisten Familien besitzen eigene Tiere wie Hühner oder Papageien. Auf einem dieser Wege machten wir sogar eine Begegnung mit einer ziemlich großen Schlange, die allerdings sofort von den kleinen Kindern mit Stöcken vertrieben wurde.

Eines unserer Schulmädchen, Emely, verbrachte viel Zeit mit uns und Mois Familie. Sie zeigte uns, wie gut manche Früchte der dortigen Bäume schmecken, wie man Lieder auf Kichwa singt, die Strömung des Flusses als Rutsche benutzt oder ein gescheites Feuer macht. Moi erzählte uns, dass Emelys Eltern in der zwei Stunden entfernten Kleinstadt Arajuno arbeiteten, um genügend Geld zu verdienen, sodass die vier Kinder unter der Woche größtenteils alleine Zuhause waren.
Als wir Emely einmal nach der Schule daheim besuchten, trafen wir dort eine Frau an, die wir als so etwas ähnliches wie eine Angestellte des Jugendamtes interpretierten. Sie besuche die Familie zweimal die Woche, erklärte uns diese. Von Emely fiel uns der Abschied besonders schwer.
Und mit der Lehrerin tauschten wir Telefonnummern aus, sodass ich sie erneut besuchen und unterstützen kann, wenn ich einmal eine ausgebildete Lehrerin bin.

Insgesamt hatten wir eine sehr schöne und interessante Zeit. Der Kontrast zwischen dem dortigen Lebensstil und dem deutschen könnte nicht größer sein. So hat mir die Ruhe gut getan und ich hatte viel Zeit zum Nachdenken in der Hängematte. Allerdings merkte ich gleichzeitig, dass mir auf Dauer etwas langweilig wurde. Mit den anderen Freiwilligen spielten wir oft Karten und auch mit Moi und seinem Cousin Fabricio hatten wir ziemlich viel Spaß, auch wenn man ihren Worten nicht so viel Glauben schenken sollte, da sie immer auf einen Scherz aus waren und einen in den meisten Fällen hinters Licht führen wollten.